Die Ortsgründungssage von Reußdörfchen

Einst führte durch dieses Tal, in dessen Mitte Reußdörfchen heute liegt, die Haupthandelsstraße zwischen Hermannstadt und Weißenburg. Der alte Weg ging über Magendorf, Kleinpold, Reußmarkt und Mühlbach, wurde aber abseits der Schutz bietenden Dörfer von zahlreichen Räuberbanden unsicher gemacht. Die Wegelagerer hatten es vor allem auf das Gold und die Waren der vorbeifahrenden Kaufleute abgesehen, überfielen aber oftmals auch ganz gewöhnliche Reisende, wenn sie Hunger, oder Lust auf Rauben und Morden hatten.
Auf diesen Weg nun machte sich einmal auch eine arme Witwe von Hermannstadt aus auf  -  sie wurde aber bald, an der Stelle, die heute "padina" genannt wird, von Räubern überfallen und ausgeraubt. An dem von der Frau mitgeführten Schnaps hatte die Räuberbande ihre besondere Freude, und als das Fass leer war, schickten sie die Witwe zurück nach Hermannstadt, ein neues Fässchen davon zu holen. Als Geisel behielten sie den Sohn der armen Frau, der mit seiner Mutter mitgereist war.
Die Witwe kehrte also nach Hermannstadt zurück und machte sich am folgenden Tag mit dem Fässchen wieder auf denselben Weg. In den Schnaps hatte sie vorher allerdings ein Betäubungsmittel gemischt, so dass die Räuber, als sie den Schnaps genüßlich austranken, von dem Gift betäubt, in einen tiefen Schlaf sanken.
Die tapfere Frau zog daraufhin ein Schwert, dass sie im Lager der Bande fand, und hieb den Schlafenden damit die Köpfe ab. Nachdem sie das Tal auf diese Weise von den Räubern befreit hatte, holte sie sich in Hermannstadt die Belohnung, die auf den Kopf des Räuberhauptmanns ausgesetzt war, und erhielt zudem die Erlaubnis, an der Stelle, an der sie ausgeraubt wurde, die Gemeinde Reußdörfchen zu gründen. Zum Andenken an diese Heldentat führt die Gemeinde bis heute in ihrem Siegel ein Schwert.


Das alte Viehbrandzeichen von Reußdörfchen.

(Von dieser Sage sind noch weitere, leicht abweichende Versionen überliefert. So ist in einer Fassung das besagte Tal z.B. noch vor dem Ereignis mit der Witwe von armen, serbisch sprechenden Tagelöhnern bevölkert, die von den Räubern in Schrecken gehalten werden. Auch gibt es leichte Unterschiede wenn es um das beigemischte Mittel geht, durch welches die Räuber schließlich in den Schlaf versetzt wurden. In der obigen Fassung handelt es sich um vergifteten Schnaps, während eine Variante in diesem Zusammenhang mit "Belladonna" vergiftetes Brot erwähnt.)

Weitere Sagen:

Der Prikulitsch

Ein alter Mann in Kleinscheuern erzählte, sein Vater habe ihm erzählt, er sei Weingartenhüter gewesen und habe in Reußdörfchen einen sehr guten Freund gehabt. Einmal hatte ihn dieser im Weingarten aufgesucht. Da sei plötzlich eine Frau mit einem Kinde Trauben stehlen gekommen. Der Reußdörfchener habe gesagt: "Warte, jetzt sollst du sehen, was ich mache", darauf habe er sich dreimal über den Kopf überschlagen, sei ein weißer Hund geworden und habe die Frau am Kittel gepackt und ein Stück davon abgerissen. Dann sei er wieder zurückgekommen, habe sich dreimal über den Kopf gedreht und sei dagestanden mit dem Stück Kittel im Munde.

(Was ist ein Prikulitsch? - So kam eines Abends ein Mann aus der Mühle. Es war dunkel und er hatte eine Laterne in der Hand. Auf einem Stein saß ein großer weißer Hund, der dem Mann sehr verdächtig vorkam: Das muß ein Prikulitsch sein. Er ging mit der Laterne auf ihn zu. Der Hund knurrte, doch der Mann leuchtete ihm trotzdem ins Gesicht. An den Gesichtszügen glaubte er einen seiner Nachbarn erkannt zu haben, und erzählte das fortan im ganzen Dorf herum.)


Quellen & Literatur

· Friedrich Müller (Hrsg.), Siebenbürgische Sagen, Kronstadt  ²1885;  neue erweiterte Auflage, hrsg.
  von Misch Orend, Göttingen 1972, Nr. LXXIX., S. 78.

· Albert Stephani, Wie es Reußdörfchen gegangen ist (Nach der Erzählung der Einwohner), in: Kor-
  respondenznlatt des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde 23 (1900), S. 5-6.