Die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien heute

Was sich über 850 Jahre hinweg als siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft gebildet hatte, und so manche schwere Bedrohung ihrer Existenz überstehen konnte, sollte innerhalb nur weniger Jahrzehnte, zum Ende des 20. Jahrhunderts, entscheidend erschüttert und verändert werden. Das kommunistische Regime in Rumänien schaffte es schließlich und endlich nicht, dem Freiheitsdrang der Menschen dieses Landes zu widerstehen  -  für die meisten Siebenbürger Sachsen kam diese Entwicklung jedoch viel zu spät, denn seit den 70-er Jahren hatten sie zu einem Massenexodus, vor allem in die alte Heimat ihrer Vorfahren, angesetzt, der nicht wieder rückgängig zu machen ist, und der die gegenwärtige Situation heraufbeschworen hat, dass der Großteil der Siebenbürger Sachsen nun in Deutschland, kirchlich in die lutherischen Landeskirchen Deutschlands aufgenommen und integriert sind, und ein weitaus geringerer Teil, ja eine verschwindende Minderheit, in Siebenbürgen verblieben ist und dort die Zukunft der Evangelischen Kirche A.B., die bis jetzt größtenteils deutsch geblieben ist, neu gestalten und auf manche neue Aufgaben vorbereiten muss.
In Deutschland ist den meisten siebenbürgischen "Aussiedlern" die Integration in Gesellschaft und Kirche gelungen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist vor allem unter den älteren Menschen immer noch stark ausgeprägt, die Identifikation mit der Evangelischen Kirche ist mit zunehmendem Alter um so ungebrochener - allerdings werden bereits bei der nachfolgenden Generation in wachsendem Maße die gleichen Merkmale sichtbar, die heute die gesamte Gesellschaft in Deutschland kennzeichnen.
Was früher nicht leichthin denkbar gewesen wäre, dass nämlich jemand aus der Kirche ausgetreten wäre, ist heute nicht mehr ganz ungewöhnlich. Die Gründe liegen zum geringeren Teil daran, dass sich die Menschen in der "neuen Kirche" nicht beheimatet fühlen, vielmehr ist hier an allgemeingesellschaftliche Einflüsse zu denken, die auch vor den Siebenbürger Sachsen in Deutschland keinen Halt machen.
Die Situation in Rumänien sieht dagegen viel dramatischer aus. Die noch vorhandenen Siebenbürger Sachsen bilden eine kleine nationale Minderheit und entsprechend gestaltet sich die Situation der Evangelischen Kirche A.B. Von einst beinahe 300.000 Mitgliedern sind heute nur noch 16.543 (Zahlen von 1999) zurückgeblieben. Diese wohnen in 260 Kirchengemeinden, wobei es vorkommt, dass in vielen Orten weniger als zwanzig Gemeindeglieder leben. Nur noch sechs Kirchengemeinden haben über 500 Mitglieder, zwei zwischen 300 und 500, und der Rest alle weniger. Dabei ist der Altersdurchschnitt in den Gemeinden sehr hoch; Kinder und Jugendliche sind in den Dorfgemeinden kaum anzutreffen. In den Stadtgemeinden leben die jüngeren Gemeindeglieder mittlerweile größtenteils in konfessionell und volksgemeinschaftlich gemischten Ehen. Im Blick auf die Gemeindeglieder, die der deutschen Sprache nicht oder kaum mächtig sind, werden mancherorts Gottesdienste in rumänischer Sprache angeboten. Bei Kasualien (Anm.: Taufen, Beerdigungen, usw.) wird sehr oft auch Rumänisch gesprochen.
Die neue Kirchenordnung legt weiterhin 'Deutsch' als Amtssprache der Kirche fest, allerdings ist vorauszusehen, dass mit schwindenden Sprachkenntnissen auch das Geschichtsbewußtsein und das Verständnis für die Eigenart des siebenbürgisch sächsischen Wesens, der Kirche und Kultur langsam verloren gehen.
Die älteren Gemeindeglieder wollen in den Ordnungen, die sie von Kindheit an kennen, verbleiben und sterben, jedoch werden in Zukunft bestimmte Bräuche, geschichtliche Werte und Kunstgegenstände nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie bisher. Auch hat sich das soziale Gefüge innerhalb der meisten Gemeinden so weit gewandelt, dass bestimmte Dienste nicht mehr in vollem Umfang wahrgenommen werden können. Die evangelischen Kirchenbezirke zählen (beim Stand vom  30.06.1999) im gemeindegliederreichsten Bezirk von Kronstadt 5735 Seelen - und im kleineren Bezirk von Mühlbach die wenigsten Gemeindeglieder mit 2247. Die übrigen drei Bezirke (Hermannstadt, Mediasch, Schäßburg) liegen zahlenmäßig dazwischen.
Die Gottesdienste sind prozentuell gesehen sehr gut besucht, allerdings ist der Altersdurchschnitt relativ hoch. Die Kinder werden im schulischen Religionsunterricht, mancherorts durch eine katechetische Unterweisung sowie in dem anschließenden Konfirmandenunterricht in Glaubensfragen und das Gemeindeleben eingeführt.
Leider geschieht es immer wieder, dass in Kirchengebäude und Pfarrhäuser eingebrochen wird, dass Pfarrgärten und kirchliche Ackerflächen geplündert und Friedhöfe geschändet werden. Wenige der Gotteshäuser und Kirchenburgen können mit ausländischer Hilfe restauriert werden. Für viele andere bestehen nur schlechte Aussichten auf Erhaltung, zumal auch die Hilfe der ausgewanderten Sachsen immer weiter abnimmt.
Als wichtige Aufgaben für die Zeit nach der Wende von 1989/90  werden von der Kirche vier Schwerpunkte ins Auge gefasst (nach  H.-G. Binder, Anmerkungen zur Situation der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien):

1.  Die geistliche Betreuung der übriggebliebenen Gemeindeglieder.
2.  Diakonische Hilfeleistungen zugunsten der bedürftigen Gemeindeglieder.
3.  Die Bewahrung des kirchlichen Kunst-, Kultur- und Archivguts.
4.  Die Wahrnehmung einer zuverlässigen Verwaltung.

Auf dem Weg in ein neues Jahrtausend sieht sich die Evangelische Kirche  A.B. in Rumänien mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert. Eine Neuorientierung ist in bestimmten Bereichen unumgänglich, will sie sich in nächster Zukunft weiterhin behaupten. Aus der einstigen Volkskirche ist binnen kurzer Zeit eine Diasporakirche geworden.
Zitiert nach G.-H. Binder sieht man der Zukunft trotz allem entschlossen entgegen:

"Unsre Kirche hat am Ende dieses Jahrhunderts eine neue Gestalt erhalten. Ihr Weg in die Zukunft steht nicht in ungebrochener Fortsetzung dessen, was sie einmal war. Dennoch bleibt ihr Auftrag - dem sich die vielen Einzelaufgaben einfügen - unverändert:
Sie ist gerufen, in ihrem Bereich das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen und im Glauben an das Evangelium von Jesus Christus ihren Gehorsam zu bewähren. Sie hat den Auftrag zur Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung, zur Seelsorge, Unterweisung und Nächstenhilfe, zur Förderung der ökumenischen Gemeinschaft und der Mission. Sie muss, wie ihr Weg auch immer weitergehen mag, das vielfache Zeugnis, das ihr von den Vätern überkommen ist, der Nachwelt bewahren und weiterreichen. Sie muss, was sie tut, in guter Ordnung geschehen lassen."